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KISS, 12. Mai 2008 (Stadthalle,
Wien)
(von Christoph Löger) PEOPLE!!!
Nicht lang herumreden: Man nehme einen
Vulkan-Ausbruch, die 130 Dezibel einer startenden Boeing 747, das irre
Schreien eines Ferrari-Zwölfzylinders bei 9000 Touren und dazu das
beklemmende Gefühl, zwei Stunden lang mit offenen Augen bei 60 Grad in einem
Sonnenstudio-Toaster zu liegen. Ganz genau: Wir waren bei KISS in der
Stadthalle.
Warum dieses Review erst über eine Woche nach dessen Anlass hier erscheint,
hat Gründe: Weniger die Faulheit hat mich geplagt, sondern vielmehr die
schiere Umöglichkeit, das Geschehene in so kurzer Zeit visuell, physisch und
psychisch zu verarbeiten und zu ordnen.
Wenn KISS in die Stadt kommen, herrscht unter eingefleischten Fans (zu denen
ich mich seit 20 Jahren zähle) schon Wochen vor dem Termin Ausnahmezustand.
Alte Bootlegs meist zweifelhafter Qualität werden herausgekramt,
einschlägige Fan-Seiten mehrmals täglich zwecks Tour-Neuigkeiten
konsultiert, alle KISS-Shirts gewaschen, man spekuliert mit Freunden über
die mögliche Setlist, beim Auflegen im Indie-Stadtbahnbogen-Lokal des
Vertrauens rutscht gerne auch einmal „Detroit Rock City“ zwischen die Kooks
und MGMT. Worauf 15jährige Mädls zwar kurz mit diesem „Whatthefuck?!?“-Blick
aus dunkel verschmierten Augen von der Tanzfläche zum DJ schauen, aber ihre
mit Kate-Nash-Petticoats bekleideten Beine dann doch aufs unbekannte
KISS-Riff reinfallen und gar net anders können, als die sprießenden Hormone
tanzen zu lassen. Na bumm, was für ein Einstieg in diesen Text. Ich werf mir
selber 2 Euro in die Macho-Kassa, sorry for that.
Wie ging es mir selber? Wie ein kleines Kind vor Weihnachten zählt man die
Tage – „elf Mal noch schlafen, zehn Mal noch schlafen,….“
9…
8…
7…
6…
5…
4…
3…
2…
12. Mai, Wiener Stadthalle, 19 Uhr: Im Umkreis eines Kilometers sind nur
wenige Menschen anzutreffen, die kein KISS-Shirt tragen oder in voller
Kampfbemalung geschminkt sind – die Zivilbevölkerung dürfte sich eingesperrt
haben und die Jalousien herunter gelassen. So wie man es in alten Western
sieht, wenn der Gringo bei Sonnenuntergang in die Stadt reitet und der
Tischler eine Extra-Schicht Särge zusammenklopft.
Die Halle ist mit über 12.000 Menschen komplett ausverkauft, die
Merchandise-Stände verdienen sich dumm und dämlich (von irgendwas muss Gene
Simmons ja leben) und irgendwann spielt auch eine Vorgruppe namens „Cinder
Road“. Die Amerikaner reproduzieren braven Hardrock, haben aber die denkbar
schwierigste Aufgabe, die eine Band überhaupt haben kann – nämlich vor einem
Godzilla-meets-Predator-meets-KingKong-Kaliber wie KISS aufzutreten. Das
Wiener Publikum war aber gnädig und hat ab und zu sogar milde lächelnd zur
Bühne geschaut. Immerhin flogen keine Bierbecher und „KISS, KISS,
KISS“-Chöre waren auch nur vereinzelt zu hören. Sehr anständig.
Und dann passieren jene berühmten zehn Minuten, bei deren alleiniger
Vorstellung es jedem KISS-Afficionado reflexartig die Gänsehaut aufzieht,
der Puls sich verdoppelt und die Knie weich werden wie vor dem ersten
K(i)uss: Die Halle verdunkelt sich komplett, man schaut auf einen riesigen
Vorhang mit silbernem Band-Logo in XXXXL-Größe, der die Bühne verdeckt, über
dem Publikum ziehen blaue Lichter von Suchscheinwerfern ihre Kreise und dazu
startet The Who’s unfassbar geniales „Won’t Get Fooled Again“ aus der
Hallen-PA. Schlagartig sind Tausende Leute still. Im Mittelteil wird die
Nummer immer lauter, um schließlich in Roger Daltrey’s wohl bestem Schrei
ever zu enden. Ab diesem Moment sind es noch zwei Minuten: Ein unpackbar
tiefer Bass-Ton setzt ein, das Bier vibriert in Becher und Magen, die Halle
ist kurz vorm Platzen und dann kommen die Worte, mit denen seit 35 Jahren
jedes KISS-Konzert startet: „You wanted the best, you got the best. The
hottest band in the world…..KISS!!!!!“
Ab diesem Moment ist man für drei Minuten komplett perplex und erst einmal
taub. Man steht einfach nur da, alles verschwimmt und das Hirn fährt
Achterbahn. Die Augen wissen nicht, wohin sie zuerst schauen sollen, weil
sich ein endloser Horizont an Reizüberflutung vor einem auftut. Man könnte
auf Nachfrage in der Situation nicht einmal 2 und 2 zusammenzählen, sondern
nur hilflos sabbern und blöd dreinschauen. Nix für Epileptiker, jedenfalls.
Zu den Klängen von „Deuce“ schweben die vier New Yorker auf einer Plattform
vom Bühnendach herunter, alles explodiert, überall Flammen, es ist vorne
fürchterlich heiß, das Gesicht fühlt sich an, als würde man ein Schnitzel
ins heiße Fett legen. Ein deutscher Kollege hat es schön formuliert: „Mehr
Explosionen als in einem handelsüblichen Bürgerkrieg“. Worte können ohnehin
nicht erklären, was sich live tatsächlich abspielt, deswegen hier das Video
vom Wiener Konzertbeginn:
KISS sind nicht unbedingt bekannt dafür, die Großmeister der stoischen
Zurückhaltung zu sein, vor allem, was die Bühnenshow angeht. Aber die Stage
für die jetzige „Alive!35“-Tour stellt sogar für KISS-Verhältnisse alles
bisher Dagewesene in den Schatten. 15 (!) Tieflader-Trucks tingeln damit
durch die Gegend, sie wiegt an die 30 Tonnen und ist definitiv das Größte,
was jemals indoor in Österreich zu sehen war. Ich hab die Herren jetzt schon
zum fünften Mal erlebt und auch sonst viel Großes gesehen, aber solche
gigantischen Ausmaße hab ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen
wollen. Ich muss seit letzten Montag meine imaginären
Konzertbühnen-Kategorien neu justieren. Allein das Drum-Podest von
Schlagzeuger Eric Singer (Nein, kein Original-Mitglied, aber auf diese
Diskussion lass ich mich hier bestimmt nicht ein) fährt bis an die
Bühnendecke rauf, detto die zwei Lifte links und rechts. Ganz abgesehen von
jenem Seilzug, der zur Mitte des Gigs Gene Simmons ans Dach schweben lässt.
Oder jene Seilbahn, mit der Paul Stanley bei „Love Gun“ (http://de.youtube.com/watch?v=JUIn3NJrsAI&feature=related)
über die Köpfe des Publikums hinweg an das hintere Ende der Halle fährt und
er von dort aus weiter singt. Und immer und überall Feuer, Explosionen,
Nebel, Trockeneis. Ein CO2-Fußabdruck, den ein kleines Land wie Costa Rica
in einem Jahr nicht schafft.
Dass sie sich damit ein wenig überschätzt haben, steht auf einem anderen
Blatt: Wien war erst der dritte Termin des europäischen Teils der Tour und
bereits tags zuvor in München gab es extreme Probleme beim Aufbau dieses
Derivats eines achten Weltwunders. Der Soundcheck in Bayern musste
entfallen, die Vorband wurde auf eine gute Viertelstunde zusammengestutzt.
In Wien hat gottseidank alles geklappt, die Probleme sollten sich danach
aber in Verona/Italien wiederholen, außerdem wurde ab dann bis auf weiteres
die Setlist um drei Lieder gekürzt. Man darf also auch ohne patriotische
Rosa-Sonnenbrille sagen, dass das Wien-Konzert wohl eines der wenigen der
Tour bleiben wird, wo man the full monty bekam.
Eine echte Überraschung gab’s aber: Im Gegensatz zu den letzten zehn Jahren,
in denen sich die Setlist auf die altbekannten Hits beschränkt hatte, sind
KISS diesmal (für ihre Verhältnisse, hüstel) innovativ: Im ersten Teil des
Konzerts spielen sie das komplette „Alive!“-Album von 1975 durch, was in
Wien dazu führte, dass die „I was made for lovin’ you“-Fraktion im Publikum
bei für sie eher unbekannteren Songs wie „Got to choose“ (http://de.youtube.com/watch?v=a5OlL144GCM)
oder „She“ ein bissl verstört dreing’schaut hat. Aber funktioniert hat es
trotzdem perfekt: Das Riff zu „Parasite“ muss man nämlich nicht kennen, um
von Sekunde Eins an vom Rock’N’Roll-Wahnsinn gepackt zu werden. Und es
braucht auch keinen Peter Criss (Original-Drummer), um „Nothin’ to lose“
jener Bestimmung zuzuführen, für das es geschrieben wurde: Zu rocken, dass
das frisch gewaschene Leiberl nach einer halben Minute waschlnass ist. Das
kann nämlich Eric Singer deutlich besser, ganz abgesehen von seinem
unglaublich dichten und druckvollen Schlagzeug-Spiel. Wie auch Tommy Thayer
(der Mann, der nun das Make-Up von Original-Gitarrist Ace Frehley trägt)
nicht „nur“ der „Ersatz“ ist, für den ihn viele Fans halten: Er kommt zwar –
no na – nicht an das unbeschreibliche Ace-Gefühl heran, technisch ist er dem
Hrn. Frehley aber haushoch überlegen. (http://de.youtube.com/watch?v=9jvIu7kjGig)
Für Mails bezüglich Gotteslästerung: Bitte ans Salzamt wenden.
Und dann gab’s die nächste Überraschung für all jene, die’s vorher nicht
wussten: Normalerweise endet nämlich ein KISS-Konzert nach etwa 90 Minuten
mit der Mitgröhl-Hymne „Rock’N’Roll All Night“. Die wurde auch gespielt,
inklusive völlig irrem Konfetti-Regen (geschätzte sechs Hektar Regenwald in
Papierschnitzel-Form – siehe hier:
http://de.youtube.com/watch?v=tbQHCW44s-o) und Nebelwerfern von allen
Seiten der Halle, aber: Es war halt noch nicht, so wie gewohnt, vorbei.
Beginn Zugaben-Block: Shout It Out Loud/Lick It Up
Sechs (!) Zugaben folgten, auf eine ganze Zusatz-Stunde gestretched. Und
damit wurden all jene bedient, die auf die großen Hits gewartet haben. Bei „Lick
it Up“ (s. Video oben), vom gleichnamigen 83er-Album, hat das Wiener
Publikum die Band übertönt. Paul Stanley hat nur mehr das Mikro in die Menge
gehalten. Und dann noch einmal ein Übergang, der seinesgleichen sucht: „Lick
it up“ klingt langsam aus und Tommy Thayer zitiert noch einmal eine Minute
lang wunderschön The Who’s „Won’t Get Fooled Again“ (Das Lied ist ja
wirklich ein Gottesgeschenk an die Menschheit, man kann’s gar nicht oft
genug sagen). Und dann:
Gene Simmons spitting blood/I love it Loud:
Endlich fliegt Gene Simmons an die Decke und spuckt Blut – aber
nicht, wie üblich, bei „God of Thunder“, sondern bei „I love it loud“.
Endgültig ausgezuckt sind 12.000 Unwürdige dann bei „I was made…“ (Jaja, das
kennen wir aus dem Radio, aber das Wien-Video enthalt ich mir, bös wie ich
bin), bevor mit „Detroit Rock City“ der größte Rock-Zirkus der Welt vorbei
war. Zum Runterkommen hat man den Fans nach Einschalten des Hallen-Lichts
aus der PA noch „God gave Rock’n’Roll to You“ auf den Heimweg mitgegeben
(Jenes Lied, das mir eine Stunde vor meiner Matura anno ’95 das Gefühl
gegeben hat, dass ich der Welt einen Haxn ausreißen kann. Was ich auch getan
hab.)
Die ersten Empfindungen danach (abgesehen von temporärer Taubheit): Da
gibt’s wieder keine Worte, mit denen man in überg’scheiten, most
sophisticated Anmerkungen sowas beschreiben kann. Viel besser treffen es
zwei Gefühlsregungen aus dem reichen oberösterreichischen und wienerischen
Dialektschatz: „Scheißmiau“ und „Bistdudeppat“.
Den Versuch eines Fazits gibt’s dennoch: Es war mit ziemlicher Sicherheit
das österreichische Konzert-Highlight des Jahres. Und eine gigantische Show
einer Band, die in den Medien allzu gern als „Altrocker“, „Runzelmonster“
oder „Schminke-Clowns“ dargestellt wird (Übrigens: Wer mir einmal mit dem
Unwort „Altrocker“ kommt, dem hau’ ich eins auf die Nase, sofern ich darf).
Nun kann man einwerfen, dass Paul Stanley’s Hüften mittlerweile ebensowenig
original sind wie die Hälfte der Band-Mitglieder. Oder Gene Simmons sich
entblödet, den unsäglichen „Osbournes“-Abklatsch „Family Jewels“ zu drehen.
Aber man zeige mir bitteschön eine Band diesen Ausmaßes, die es nach 35
Jahren schafft, sich dermaßen konsequent und unbeirrt selbst treu zu
bleiben. Und damit nach wie vor out-of-this-world-Erfolg zu haben. Die
Stones? Nein, die sind sind sich nicht treu geblieben.
Gene Simmons bei der Presse-Konferenz zum Tourstart im März: „We’re gonna
show those young bands out there how the big boys do it.“
Und recht hatte er. So verdammt recht.
Als Bonus hier ein schöner Zusammenschnitt des Wien-Gigs in High Quality:
Ahja, eins noch: Paul Stanley hat sowohl in Oberhausen, München und Wien
folgendes angekündigt: „See you next year!“ – Wer KISS kennt, weiß, dass sie
nix sagen, was sie nicht halten. Aber wundern würde es mich doch, wenn diese
monströse Tour auf Dauer gut geht. Wenn sie nochmal kommen, ist es definitiv
das letzte Mal, dass man sie auf diesem Planeten live sieht. Die nächste
Tour findet dann am Mars statt. Bin sicher, dass Gene Simmons schon in
Verhandlung mit der NASA steht, wie man 30 Tonnen Material möglichst günstig
dorthin schaffen kann. Mal schauen….
Setlist KISS, Wien, Stadthalle, 12.05.2008:
Deuce
Strutter
Got to choose
Hotter than hell
Firehouse (Gene spits fire)
Nothin' to lose (Eric vocals)
C'mon and love me
Parasite
She (Tommy shoots rockets)
Watchin' you
Rock Bottom
100.000 years (Eric Solo)
Cold Gin
Let me go, Rock & Roll
Black Diamond
Rock and Roll all nite
Shout it out loud
Lick it up/Won't get fooled again
I love it loud (Gene spits blood)
I was made for lovin' you
Love Gun (Paul flies)
Detroit Rock city